Positionspapier für die weitere Ausgestaltung der
psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung von
Geflüchteten und Menschen mit Migrationshintergrund in
Rheinland-Pfalz | hier veröffentlicht am 11.1.2021
Die Unterzeichnenden des vorliegenden Positionspapiers
stellen fest, dass Geflüchtete und Menschen mit Migrations-
hintergrund, die psychisch erkrankt sind, in unserem Gesund-
heitssystem nicht adäquat versorgt werden und im Regel-
system nicht ankommen. Besonders betroffen sind psychisch
kranke Menschen, deren Gesundheitsversorgung nach Asyl-
bewerberleistungsgesetz geregelt wird, und Menschen mit
Migrationshintergrund, deren Kenntnisse der deutschen
Sprache für eine Behandlung auf Deutsch nicht ausreichend
sind. Die Auswirkungen der Coronakrise verstärken die
vorhandenen Probleme in der Prävention und Versorgung und
treffen insbesondere die Geflüchteten in den Aufnahme- und
Gemeinschaftsunterkünften mit voller Wucht.
Die Bemühungen um eine wirksame migrationsgesellschaft-
liche Öffnung des Gesundheitssystems müssen weiter voran-
getrieben und intensiviert werden. Damit das Recht auf
Gesundheit, wie es u.a. im UN-Sozialpakt verankert ist, auch
von der hier im Fokus stehenden Zielgruppe in Anspruch
genommen werden kann, müssen staatliche Gesundheits-
leistungen und -einrichtungen verfügbar, zugänglich,
annehmbar und von ausreichender Qualität sein. Die
Zugänge zum deutschen Gesundheitssystem sind jedoch für
die genannten Gruppen nach wie vor prekär und die
Zugangsbarrieren mithin für eine effektive psychiatrisch-
psychotherapeutische Versorgung groß. Zu deren Über-
windung wurden u.a. im Zuge der Aufnahme von Flüchtlingen
seit 2015 punktuelle Lösungsansätze entwickelt, jedoch
bislang keine systematischen Lösungen gefunden.
Die psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung von
Geflüchteten und Menschen mit Migrationshintergrund in
Rheinland-Pfalz – Status Quo
Das Versorgungssystem in Rheinland-Pfalz ist vielschichtig.
Für viele psychisch erkrankte Menschen ist es eine Heraus-
forderung, die richtige Ansprechperson zu finden und die
Finanzierung der Behandlung zu klären. Kommen kulturelle
und/oder sprachliche Barrieren und/oder die Unkenntnis des
Versorgungssystems hinzu, erreichen die bestehenden
Behandlungsangebote die Betroffenen entweder überhaupt
nicht oder erst sehr spät. Unter-, Über- oder Fehlversorgung
sind bekannte Folgen, die zu Verschlechterungen und
Chronifizierung der psychischen Erkrankung führen können
und nicht selten eine teurere „Übermedikalisierung“ und
erhöhte Kosten für die stationäre sowie die ambulante
Therapie verursachen (u.a. „Drehtüreffekt“ bei stationären
Aufenthalten).
Sprache ist das zentrale Behandlungsmittel in der Versorgung
psychisch kranker Menschen. Menschen, die die deutsche
Sprache nicht oder nicht ausreichend sprechen können,
müssen in ihrer Muttersprache oder mithilfe von Sprach-
mittler*innen behandelt werden. Da psychische Erkrankungen
jedoch häufig zu Konzentrations- und Aufmerksamkeits-
störungen führen, werden Lernprozesse und somit der
Spracherwerb durch ebendiese verhindert. Die Finanzierung
von Sprachmittler*innen ist nicht transparent und einheitlich
geregelt. Der zeitliche Versorgungsaufwand von Patient*innen
mit Sprachbarrieren und/oder offenen asylrechtlichen Fragen
ist nicht zuletzt deswegen im Vergleich zur Versorgung
anderer Patient*innen deutlich höher.
Geduldete Personen mit psychischen Erkrankungen sind in
der Gesundheitsversorgung rechtlich schlechter gestellt als
Personen im Asylverfahren oder anerkannte Geflüchtete. Für
sie gilt die EU-Aufnahmerichtlinie nicht bzw. nicht mehr (auch,
wenn im Rahmen des Asylverfahrens zuvor eine besondere
Vulnerabilität festgestellt wurde), sodass die Leistungen nach
§ 6 AsylbLG eine Kann-Bestimmung bleiben. Eine Duldung
stellt für viele Personen einen Dauerzustand dar.
Außerhalb der Leistungen des regulären Gesundheitssystems
angesiedelt, erbringen die Psychosozialen Zentren für
Flüchtlinge (PSZ) in RLP mit ihrem multiprofessionellen und
ganzheitlichen Ansatz Komplexleistungen, die eine not-
wendige und sinnvolle Ergänzung der Gesundheits-
versorgung darstellen bzw. eine faktisch vorhandene
Versorgungslücke schließen.
Die (bundes-)gesetzlichen Verschärfungen haben zur Folge,
dass neben psychologischen Stellungnahmen immer häufiger
auch fachpsychiatrische Bescheinigungen der
Psychiater*innen bei den Verwaltungsgerichten kein Gehör
mehr finden, da sie den „Anforderungen“ eines qualifizierten
fachärztlichen Attestes angeblich nicht genügen. Das
Erstellen der fachärztlichen Atteste ist mit einem erheblichen
Arbeitsaufwand für die ausstellenden Fachärzt*innen
verbunden, zudem ist Spezialwissen rechtliche Frage-
stellungen betreffend erforderlich.
Es findet bislang keine flächendeckende Erhebung des
psychosozialen Versorgungsbedarfs der geflüchteten
Menschen in den Aufnahmeeinrichtungen statt. Entsprechend
geschultes Fachpersonal (Krankenpfleger*innen, SozPäd,
SozArb, Psycholog*innen) könnte bei Hinweisen auf
psychische Erkrankung an entsprechende Fachstellen zur
Diagnostik, Behandlung und Begutachtung anbinden.
Unsere Forderungen:
eine geregelte, transparente und standardisierte
Finanzierung des Einsatzes von Sprachmittler*innen (auch
für Geflüchtete mit Anerkennung und Versichertenkarte)
sowohl im Bereich der stationären wie auch der
ambulanten Versorgung
eine deutlich verbesserte personelle Ausstattung im
stationären Setting, die dem erhöhten zeitlichen Aufwand
aufgrund von Sprachbarrieren und/oder asylrechtlichen
Fragestellungen gerecht wird
Etablierung eines klaren, transparenten Antragsverfahrens
in der ambulanten psychotherapeutischen Versorgung von
Geflüchteten, die Leistungen nach dem AsylbLG beziehen.
Dies betrifft besonders die Abrechnung mit dem
Sozialamt/der Kommune und damit die Reduzierung
bürokratischer Hürden.
die Etablierung hauptamtlicher Gesundheitslots*innen in
den Kommunen, angesiedelt z.B. beim Gesundheitsamt
qualifizierte Schulungen primärer Kontaktpersonen (z.B.
Verantwortliche in den Erstaufnahmeeinrichtungen,
Kostenträger der Kommunen, Sozialarbeiter*innen,
Allgemeinärzt*innen etc.) hinsichtlich psychischer
Symptome, kultursensibler Herangehensweise (trans-
kulturelle Kompetenz) und der Vermittlung in das
Versorgungssystem
massive Aufstockung o.g. Fachpersonals in den
Aufnahmeeinrichtungen und Aufstockung der PSZ mit
ihrem spezialisieren Behandlungsangebot zur Erhebung
des psychosozialen Versorgungsbedarfs der geflüchteten
Menschen
die Etablierung von fest in der Organisationsstruktur
verankerten „Migrations- bzw. Integrationsbeauftragten“ an
den Kliniken und Krankenhäusern
Transparenz über die stationären Versorgungsangebote
der einzelnen Kliniken und Krankenhäuser für Geflüch-
tete/Migrant*innen und zu geeigneten/professionellen
Angeboten des Dolmetschens
eine klare Haltung der Landesregierung zur Versorgung
von geflüchteten, psychisch erkrankten Menschen in den
Kommunen entsprechend der EU-Aufnahmerichtlinie und
eine klare und nachdrückliche Kommunikation dieser
Haltung in die Kommunen
eine transparente Kommunikation zwischen den
Kommunen und Anbietern von Eingliederungshilfe-
maßnahmen, um die Angebote möglichst ohne qualitative
Einbußen auch für Menschen mit Sprachbarriere zu
öffnen. Eine entsprechende Finanzierung ist zu
gewährleisten.
eine (rechts-)verbindliche Anpassung der Leistungs-
ansprüche psychisch erkrankter geduldeter Personen an
die Leistungsansprüche der besonders Schutzbedürftigen
nach EU-Aufnahmerichtlinie
eine nachhaltige Förderung und tragfähige finanzielle
Absicherung der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge
(PSZ) in RLP
eine klare Definition des Begriffs der „Reisefähigkeit“ im
Sinne einer Legaldefinition, nach der Reisefähigkeit im
weiteren Sinne zu verstehen ist, um eine zu enge Aus-
legung des Begriffs zu verhindern, nach der Reisefähigkeit
auf Transportfähigkeit reduziert bzw. damit gleichgesetzt
wird
entsprechende Sondervergütungen des Mehraufwands
von fachärztlichen Attesten im Rahmen aufenthaltsrecht-
licher Fragestellungen und die Entwicklung von Fort-
bildungsmöglichkeiten für Ärzt*innen zu den rechtlichen
Rahmenbedingungen
Die Herausforderungen für eine wirksame migrations-
gesellschaftliche Öffnung des Gesundheitssystems sind
vielfältig und in diesem Papier sicherlich nicht abschließend
und vollumfänglich benannt. Auch gibt es weitere Sichtweisen
und Blickwinkel von verschiedenen beteiligten Professionen,
die ergänzenswert sind. Die Unterzeichnenden möchten
daher einen fachübergreifenden und breiten Austausch über
die vorgestellten Positionen anstoßen und laden dazu ein,
gemeinsam konkrete Lösungsansätze zu erarbeiten.
Unterzeichner:
Univ.-Prof. Dr. med. Wolfgang Kelsch
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Universitätsmedizin Mainz
Dr. med. Stefan Thielscher
AG Migration und Psychiatrie
AK der Chefärzt/innen der Psychiatrischen Kliniken und
Abteilungen RLP
Anke Marzi
Vorsitzende der LIGA der freien Wohlfahrtspflege RLP
Ulrich Bestle
Mitglied des Vorstands der Landespsychotherapeutenkammer
RLP
Markus Göpfert
Koordinierungsstelle für die interkulturelle Öffnung des
Gesundheitssystems in RLP
Nurhayat Canpolat
AG Flucht und Trauma
Zusammenschluss der Psychosozialen Zentren (PSZ) für
Flüchtlinge in RLP